17

 

Tegan hatte gewusst, dass es ein Fehler war, in diesen Empfang hineinzuplatzen. Er war schon ein paar Hundert Meter zu Fuß vom Herrenhaus entfernt, als ihn plötzlich der Drang überkam, zurückzugehen und all diesen Idioten aus den Dunklen Häfen, die sich für etwas Besseres hielten als ihn, seine Anwesenheit kundzutun.

Oder vielleicht wollte er seine Anwesenheit auch nur der Frau kundtun, die ihm den Kopf verdrehte, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Aus irgendwelchen masochistischen Anwandlungen heraus wollte er Anspruch auf sie erheben, auch wenn er sich völlig sicher war, dass seine Anwesenheit sie abstoßen würde - so wie alle anderen, die ihn anstarrten, als er in voller Kampfmontur in ihre nette kleine Party hineinplatzte.

Er hätte nie erwartet, dass Elise Partei für ihn ergreifen würde. Als müsste man ihn in Schutz nehmen vor einem Haufen Weicheier in Fracks und Fliegen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich zum letzten Mal gedemütigt gefühlt hatte, aber jetzt tat er es, wie er da allein vor Elise stand und der Rest der Gesellschaft zurückwich.

„Entschuldige mich“, sagte sie, als hätte sie seine Frage überhört. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie einfach davon.

Tegan stand da und folgte ihr mit den Augen, als sie ihr leeres Weinglas auf dem Tablett eines Bediensteten abstellte und an die gläserne Flügeltür der Fensterwand trat, die auf die Rasenflächen und Gärten an der Hinterfront des Anwesens hinausgingen, mit Blick auf einen See. Als sie allein hinausschlüpfte, knurrte Tegan einen Fluch und ging ihr nach.

Als er sie erreichte, war sie schon auf halber Höhe zum Wasser. Das gefrorene Gras knirschte unter den schmalen Absätzen ihrer Schuhe.

Tegan packte sie am Arm, bis sie stehen blieb. „Erklärst du mir mal, was das eben war?“

Sie zuckte die Schultern. „Mir hat nicht gefallen, was ich gehört habe. Diese selbstgerechten Anzugträger, wie du sie nennst, sind im Unrecht, und das musste ihnen einmal jemand sagen.“

Tegan stieß hart den Atem aus, der in der kalten Winterluft Wolken bildete. „Hör mal gut zu! Ich brauche niemanden, der mir zu Hilfe eilt und mich verteidigt - besonders nicht vor einem Haufen Arschlöchern wie denen da drin. Ich schlage meine eigenen Schlachten. Nächstes Mal verschone mich gefälligst mit deinem Mitgefühl.“

Sie kniff die Augen zusammen, als sie in der Dunkelheit zu ihm aufsah. „Du bist einfach unfähig, von anderen auch nur die kleinste Freundlichkeit anzunehmen, was, Tegan?“

„Ich bin ein Einzelkämpfer. Das ist für mich am besten so.“

Sie lachte ihn aus. Warf ihren hübschen Kopf zurück und lachte ihn tatsächlich einfach aus! „Du bist unglaublich. Mit einer Armee Rogues wirst du ganz alleine fertig, hast aber Todesangst bei dem Gedanken, dass es jemanden geben könnte, dem du wichtig bist. Oder noch schlimmer, dass womöglich du in Versuchung kommst, jemanden an dich heranzulassen.“

„Du weißt gar nichts über mich. Rein gar nichts.“

„Tut das denn irgendwer?“ Sie riss den Arm aus seinem leichten Griff. Ihr Gesicht wirkte starr im Mondlicht, ihre weichen Züge angespannt. „Geh weg, Tegan. Ich bin müde und wollte nur … ich möchte jetzt einfach allein sein.“

Er sah zu, wie sie ihren langen, indigoblauen Rock über die blassen Knöchel hob und weiter auf den dunklen See zuging, der am Ende des weitläufigen Grundstücks glitzerte. Im Schatten eines alten Bootshauses am Ufer blieb sie stehen, die Arme um ihren Leib geschlungen.

Tegan dachte schon daran, ihr den Gefallen zu tun - sich einfach umzudrehen und sie in Ruhe zu lassen. Aber jetzt war er wirklich sauer, und er hatte nicht vor, es Elise durchgehen zu lassen, dass sie ihm eine verbale Ohrfeige verpasste und ihn dann einfach stehen ließ.

Er war schon dabei, sie wütend anzufahren und ihr zu sagen, dass sie überhaupt nichts über ihn wusste, über das, was er durchgemacht hatte. Wie kam sie darauf, dass sie sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte, wie er sich fühlte? Aber als er hinter sie trat, sah er, dass sie zitterte. Heftig zitterte, und nicht nur von der Kälte.

Lieber Himmel, weinte sie etwa?

„Elise …“

Sie schüttelte den Kopf und ging weiter den Rasen hinauf, aus seiner Reichweite. „Ich sagte, geh weg!“

Tegan folgte ihr. Schneller, als menschliche Augen wahrnehmen konnten, stand er vor ihr und verstellte ihr den Weg.

Blasse, tränenfeuchte Augen blickten auf und weiteten sich, bevor sie sich anschickte, ihm auszuweichen. Doch ihr gelang nicht einmal ein einziger Schritt. Er griff nach ihr und hielt sie fest, die Hände auf ihren zitternden, nackten Schultern.

Im selben Moment, als seine Fingerspitzen ihre Haut berührten, fuhr ihr Kummer ihm durch Körper und Seele. Sein Verhalten hatte die Situation nicht gerade verbessert, aber das meiste, was er fühlen konnte, ging tiefer und war düsterer als die Wut, die er in ihr ausgelöst hatte. Tegan spürte, wie ihre Gefühle durch seine Fingerspitzen in ihn einströmten, und erkannte den kalten Schmerz des Verlusts. Er war wieder frisch, wie eine Wunde, die aufgebrochen war, bevor sie hatte verheilen können.

„Was ist da drin passiert?“

„Nichts“, log sie, ihre Stimme belegt vor Kummer. „Es geht ja vorbei, nicht?“

Seine eigenen Worte. Genau das hatte er in ihrer Wohnung zu ihr gesagt, als er ihre Trauer über ihren Verlust so kaltherzig abgeschmettert hatte. Jetzt gab sie es ihm nur zurück. Ihre lavendelblauen Augen baten ihn stumm, ihr etwas Freundliches zu sagen, hofften, dass er auf den Gedanken kam, ihr seinen Trost anzubieten.

Und das wollte er. Die Erkenntnis traf ihn hart und fuhr ihm wie ein Schlag mitten in die Brust. Er wollte sie nicht leiden sehen.

Er wollte … Gott, was diese Frau anging, hatte er keine Ahnung, was genau er wollte.

„Ich weiß, was du durchmachst“, gab er mit ruhiger Stimme zu. „Ich weiß, was es heißt, jemanden verloren zu haben, Elise.

Mir ging es genauso.“

Ach, zum Teufel noch mal.

Was machte er da? Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, erhob sich ein uralter Teil von ihm in defensiver Panik. Er hatte seine düstere Geschichte seit Ewigkeiten niemandem mehr erzählt. Er wusste, dass er sich verwundbar machte, dass ein lange schlafendes Ungeheuer nun erwachte und ihr eine Blöße bot, aber es war zu spät, dieses Eingeständnis zurückzunehmen.

Elises Kummer wich einer zarten Überraschung. Einem Mitgefühl, von dem er nicht wusste, ob er es annehmen konnte.

„Wen hast du verloren, Tegan?“

Er ließ seinen Blick über das mondbeschienene Wasser und die funkelnden Lichter auf der anderen Seite des Sees schweifen und dachte zurück an eine Nacht, die er vor seinem inneren Auge schon Tausende von Malen immer wieder aufs Neue durchlebt hatte. Über fünfhundert Jahre lang hatte er sich alternative Szenarien ausgemalt - Dinge, die er hätte anders machen können, sollen, müssen -, aber das Ergebnis blieb immer dasselbe. „Sie hieß Sorcha. Vor langer Zeit, als wir den Orden gerade erst gegründet hatten, war sie meine Stammesgefährtin. Eines Nachts, als ich auf Patrouille war, wurde sie von Rogues entführt.“

„Oh, Tegan“, flüsterte Elise. „Haben sie … ihr wehgetan?“

„Sie ist tot“, erwiderte er, stellte einfach eine Tatsache fest.

Er dachte nicht, dass sie die grauenvollen Einzelheiten würde hören wollen. Darüber, wie ihre Entführer sie zu ihm zurückgeschickt hatten, vergewaltigt, misshandelt, nur noch die zerbrochene Hülle der Frau, die sie einst gewesen war. Gott wusste, wie wenig er über die Schuldgefühle und die Wut reden wollte, die ihn zerrissen hatten, als Sorcha lebend zurückgekommen war - aber kaum lebendig, ihres Blutes und ihrer Menschlichkeit beraubt. Zu seinem Entsetzen war Sorcha als Lakaiin zu ihm zurückgekommen.

Tegan hatte in diesen dunklen Tagen, die auf die Entführung und Rückkehr seiner Stammesgefährtin folgten, seinen Verstand und seine Selbstkontrolle verloren. Die Blutgier hatte ihn übermannt, er war nur um Haaresbreite davon entfernt gewesen, die tödliche Grenze zu überschreiten und zum Rogue zu werden.

Und alles für nichts.

Als Sorcha endlich der Tod ereilte, war er eine Gnade für sie.

„Ich kann sie nicht zurückbringen, und ich kann nicht ungeschehen machen, was damals geschehen ist.“

„Nein“, sagte Elise leise. „Wenn wir das nur könnten. Aber wie lange dauert es, bis wir aufhören, uns die Schuld zu geben für alles, was wir hätten anders machen sollen?“

Jetzt sah er auf sie herunter, das Gefühl von innerer Verbundenheit war ihm neu und fremd. Aber es war das Bedauern in ihren Augen, das etwas langsam auftauen ließ. „Nicht du warst es, Elise, die deinem Sohn die Droge gegeben hat, die ihn zum Rogue machte. Nicht du warst es, die ihn in diesen Abgrund gestoßen hat.“

„Nicht? Ich habe immer gedacht, ich beschütze ihn, dabei habe ich ihn die ganze Zeit zu fest gehalten. Er hat rebelliert. Er wollte ein Mann sein - er war ein Mann -, aber ich konnte nicht ertragen, mein Kind zu verlieren. Er war doch alles, was mir noch geblieben war. Je mehr ich versuchte, ihn bei mir zu halten, desto stärker zog es ihn fort von mir.“

„Jeder Jugendliche macht das durch, Elise. Das bedeutet nicht, dass du für seinen Tod verantwortlich bist.“

„Als ich ihn das letzte Mal sah, haben wir uns gestritten“, platzte sie heraus. „Camden wollte auf eine Party gehen - einen Rave nannte er es, glaube ich. Zu diesem Zeitpunkt wurden schon ein paar Jungen aus den Dunklen Häfen vermisst, also machte ich mir Sorgen, dass ihm etwas passieren könnte. Ich habe ihm verboten, hinzugehen. Ich habe ihm gesagt, wenn er hingeht, brauche er gar nicht wieder nach Hause kommen. Es war nur eine leere Drohung, ich hab’s doch gar nicht so gemeint …“

„Himmel“, murmelte Tegan. „Wir alle sagen Dinge, die uns später leidtun, Elise. Du hast doch nur versucht, dafür zu sorgen, dass er in Sicherheit ist.“

„Und stattdessen habe ich ihn umgebracht.“

„Nein. Die Blutgier hat ihn umgebracht. Marek und der Mensch, den er dafür bezahlt hat, Crimson zu entwickeln, haben deinen Sohn auf dem Gewissen. Nicht du.“

Sie schlang die Arme um sich und schüttelte stumm den Kopf. Ihm entging nicht, dass ihr wieder Tränen in die Augen schossen.

„Du zitterst ja.“ Tegan zog den schweren Ledermantel aus und hing ihn ihr um die Schultern, bevor sie dagegen protestieren konnte. „Es ist kalt. Du solltest nicht hier draußen sein.“

Zumindest nicht mit ihm, dachte er, so sehr in Versuchung, sie zu berühren.

Bevor er sich zurückhalten konnte, hob er seine Hand an ihre Wange und strich ihr die Nässe von der blassen Haut. Er streichelte ihr Gesicht, fuhr mit seinem Daumen über ihre Lippen.

Es fiel ihm nur zu leicht, sich daran zu erinnern, wie süß ihr Mund gewesen war, als er sich an sein Handgelenk gepresst hatte. Wie heiß sich ihre Zunge angefühlt hatte, als sie an ihm geleckt, sich an seinem Blut gestärkt hatte.

Wie das Gefühl ihres Körpers ihn entflammt hatte, als er sich so hungrig an ihm rieb.

Er wollte das wieder spüren, wollte es mit einer Wildheit, die ihn erschreckte.

„Tegan, bitte … nicht.“ Elise seufzte und schloss die Augen, als wüsste sie, welche Richtung seine Gedanken gerade nahmen.

„Tu’s nicht, wenn es dir nicht ernst ist. Berühre mich nicht so, wenn du … wenn du nichts dabei empfindest.“

Er hob ihr Kinn. Seine Fingerspitzen strichen zärtlich über ihre zarten Augenlider, zwangen sie, ihn anzusehen. Langsam öffnete sie die Augen. Dunkle Wimpern umrahmten wunderschöne helle, amethystfarbene Seen.

„Sieh mich an, Elise. Sag mir, was du denkst, was ich fühle“, murmelte er, dann beugte er den Kopf zu ihrem und drückte seinen Mund auf ihre leicht geöffneten Lippen.

Die Wärme ihres Kusses war wie eine Flamme, die das kalte Gefühl in seiner Brust zum Schmelzen brachte. Er fuhr mit den Fingern durch das kurze, seidige Haar in ihrem Nacken, hielt sie eng an sich gedrückt, während er mit der Zunge ihre Mundwinkel umspielte. Mit einem Keuchen öffnete sie sich ihm, zitterte in seinen Armen, als er die samtige Nässe ihres Mundes schmeckte.

Als sie die Hände hob, um ihn zu berühren, war Tegan derjenige, der zitterte, schockiert von dem Gefühl, gehalten zu werden. Er war erstaunt darüber, wie sehr er es brauchte - wie sehr er sie brauchte. Es war so lange her, seit er sich diese Art von Intimität gestattet hatte. Die Jahrhunderte der Einsamkeit hatten ihm auf ihre Art Trost gespendet, aber das …

Das Begehren nach dieser Frau durchzuckte ihn mit sengender Intensität. Sein Zahnfleisch pulsierte, als seine Fangzähne ausführen. Selbst hinter seinen geschlossenen Augenlidern konnte er spüren, dass seine Iriskreise bernsteinfarben glühten, der Beweis, wie sehr er Elise jetzt brauchte.

Seine Haut fühlte sich viel zu eng an, seine Dermaglyphen prickelten vom plötzlichen Ansturm seines Blutes, das ihre Farbe vertiefte zu einem leuchtenden Schillern von Indigoblau, Weinrot und Gold. Er wusste, dass sie die harte Beule seines Schwanzes spüren musste, der zwischen ihren beiden Körpern eingezwängt war und gegen ihren Bauch drückte.

Elise musste spüren, wie sein Körper auf sie reagierte - sie musste wissen, was diese Reaktionen bedeuteten -, und trotzdem schob sie ihn nicht von sich. Ihre Finger gruben sich tiefer in seine Schultern und hielten ihn mit einer Intensität, die er kaum fassen konnte.

Er war derjenige, der sich schließlich zurückzog und sich mit einem tiefen, gemurmelten Fluch aus ihrer Umarmung löste. Als er zum Haus hinaufsah, konnte er hinter den Fensterscheiben mehrere Gesichter erkennen. Einige Angehörige von Elises gehobenen Kreisen starrten sie mit offener Verachtung an.

Elise sah sie auch. Sie folgte seinem Blick über die frostüberzogenen Rasenflächen und Beete, aber als sie sich Tegan wieder zuwandte, war in ihrer Miene auch nicht die kleinste Spur von Schuldbewusstsein zu erkennen. Nur ihr weicher Blick, und die unterschwellige Hitze des Begehrens in ihren Augen.

„Lass sie doch glotzen“, sagte sie und strich ihm vor versammeltem Publikum übers Kinn. „Es ist mir egal, was sie denken.“

„Es sollte dir nicht egal sein. Das ist deine Welt da oben, auf der anderen Seite dieser Fensterscheiben.“ Sie konnte auf keinen Fall länger mit ihm hier draußen bleiben, nicht solange ihr Kuss sein Blut immer noch in Wallung brachte. „Du solltest wieder reingehen.“

Erneut sah sie hinauf zu dem goldenen Lichtschein, der aus den Fenstern und Glastüren des Ballsaals drang, und schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann nicht mehr zurück. Wenn ich sie anschaue, sehe ich nur einen goldenen Käfig. Es gibt mir den Drang, davonzulaufen, bevor die Falle wieder über mir zuschnappt.“

Dieses ehrliche Geständnis erstaunte Tegan. „Du warst in den Dunklen Häfen nicht glücklich?“

„Es war alles, was ich kannte. Quentin war alles, was ich kannte. Seine Familie hat mich als Baby aufgenommen und als eines ihrer Kinder aufgezogen. Für das Leben, das sie mir ermöglicht haben, schulde ich ihnen alles.“

Tegan stieß einen Grunzlaut aus. „Das klingt für mich nach Dankbarkeit. Daran ist nichts auszusetzen, aber was ich dich fragte, war, ob du dort glücklich warst.“

Sie warf ihm einen gedankenvollen Blick zu. „Die meiste Zeit schon. Besonders als Camden geboren wurde.“

„Du sagst, du hättest dich eingesperrt gefühlt.“

Sie nickte. „Körperlich war ich nie sehr stark. Meine Gabe machte es mir schwer, die Dunklen Häfen jemals für längere Zeit zu verlassen, und Quentin hielt es für unklug, mich alleine irgendwohin gehen zu lassen. Ich bin mir sicher, dass er mich nur beschützen wollte, aber manchmal war es einfach … erdrückend. Dann waren da noch all die Verpflichtungen der Agentur gegenüber, und die überzogenen Erwartungen, die auf einem ruhten, wenn man ein Mitglied der Familie Chase war. Man hatte seine Grundsätze, die um jeden Preis eingehalten werden mussten: Loyalität der Agentur gegenüber; den eigenen Platz kennen und dort bleiben; nur reden, wenn man gefragt wird.

Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich einfach losschreien wollte, nur um mir zu beweisen, dass ich es konnte. Fast jeden Tag, und seither hat sich nichts daran geändert.“

„Was hindert dich daran?“

Mit einem Stirnrunzeln sah sie über die Schulter. „Was?“

„Na los. Schrei doch, wenn dir danach ist. Ich werde dich nicht davon abhalten.“

Elise lachte. Wieder sah sie zum Herrenhaus hinauf. „Da würden sie sich wirklich die Mäuler zerreißen, wie? Kannst du dir vorstellen, was für Geschichten morgen im Umlauf sind?

Wie du eine hilflose Zivilistin terrorisiert hast? Dein Ruf wäre auf ewig ruiniert.“

Er zuckte die Schultern. „Wenn du mich fragst, nur ein Grund mehr, es zu tun.“

Elise stieß einen langen Seufzer aus, ihr Atem bildete eine Wolke in der kalten Luft. Als sie sich umdrehte, um ihn noch einmal anzusehen, lag ein bittender Glanz in ihren großen, lavendelfarbenen Augen. „Ich kann da heute Nacht nicht wieder reingehen. Bleibst du mit mir hier draußen, Tegan … nur noch ein bisschen?“

 

Marek war rot vor Wut, als er die Liste der Flugdaten durchging, die einer seiner Lakaien ihm vor einigen Stunden vom Bostoner Flughafen besorgt hatte. In der vorigen Nacht hatte ein Privatjet kurzfristig einen Flug nach Berlin angetreten, mit zwei Passagieren an Bord - bei einem von ihnen handelte es sich definitiv um einen Ordenskrieger.

So wie Mareks Maulwurf ihm den Passagier beschrieben hatte, konnte es nur Tegan sein. Aber die Frau, die ihn begleitete, war ihm ein Rätsel. Tegan war überzeugter Einzelgänger, und so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, konnte sich Marek einfach nicht vorstellen, was den stoischen, tödlichen Krieger dazu bewogen haben konnte, für mehr als nur die nötigen paar Minuten die Anwesenheit einer Frau zu ertragen.

Aber er war nicht immer so gewesen. Marek konnte sich gut daran erinnern, wie sehr der Krieger seiner Gefährtin verfallen gewesen war - war das etwa schon fünfhundert Jahre her?

Hübsch war sie gewesen, erinnerte sich Marek, von einer dunklen, zigeunerhaften Schönheit und mit einem lieblichen, vertrauensvollen Lächeln.

Tegan war ihr treu ergeben gewesen. Sie auf so bestialische Art zu verlieren, hatte ihn damals fast umgebracht.

Zu dumm, dass er dabei nicht mutiert war.

Die Tatsache, dass sich Tegan jetzt in Berlin aufhielt, beunruhigte ihn. In Verbindung mit dem Tagebuch, das Marek verloren hatte - und er hatte lange gebraucht, um es aufzuspüren - bedeutete das, dass eine verdammte Katastrophe auf ihn zukam. Jetzt zweifelte Marek nicht mehr daran, dass der Orden das Tagebuch hatte.

Wie lange würde es dauern, bis sie all die Puzzleteile zusammengefügt hatten? Jetzt musste er schnell handeln, wenn er seinen Vorsprung behalten wollte.

Unglücklicherweise war es gerade heller Tag, und wenn er nicht riskieren wollte, sich zehntausend Meter zu nahe an der Sonne einen tödlichen Sonnenbrand zu holen, würde er bis zum Einbruch der Dunkelheit warten müssen, bevor er den Atlantik überqueren und sich dieser misslichen Angelegenheit persönlich annehmen konnte.

Bis dahin würde er sich damit begnügen müssen, ein paar Lakaien auszuschicken, um seine Augen und Ohren zu sein.

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